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Wenn einem die Worte fehlen



Gleich nach dem Aufstehen schalte ich mein Handy an. Enttäuscht sehe ich, dass A’an meine Nachricht noch immer nicht empfangen hat. In Hamburg sind noch Sommerferien, und ich fahre Anna zu einem Sportscamp im Stadtpark. Wenigstens ist sie dadurch abgelenkt. Während ich weiter zur Arbeit fahre, höre ich auf einmal das Pling aus meinem Handy. An der Ampel schaue ich kurz, wer geschrieben hat. Es plingt schon wieder, denn ich bekomme gerade ein Foto nach dem anderen – aus Indonesien, von A’an! Ich atme erleichtert auf. Aufgeregt fahre ich zügig weiter. So gern würde ich jetzt schon gucken, doch ich ermahne mich zur Ruhe.


Auf dem Parkplatz meiner Arbeit angekommen sehe ich mir sofort die Fotos an: Trümmer über Trümmer, ich erkenne A'ans zerstörtes Haus, immerhin steht noch eine Wand, Kinder mit traurigen Gesichtern strecken ihre Hände aus, als würden sie auf Essen warten, auf einem anderen Foto sind riesige blaue Zelte zwischen Palmen und blauem Himmel zu sehen, wenigstens regnet es nicht, denke ich. Eines der Bilder ziehe ich größer und erkenne, dass der junge Mann, der einen riesigen Sack auf der Schulter trägt, tatsächlich A’an ist. Es sieht so aus, als würde er all sein Hab und Gut in eine große Decke eingewickelt haben.


Die Dorfgemeinschaft hält zusammen


Die Bilder sagen mehr als tausend Worte, und sie machen mich einen Moment lang sprachlos. Dann versuche ich, die Fotos angemessen zu kommentieren und frage A‘an, ob er trotz der Katastrophe gesund und unverletzt sei. Wieder warte ich auf die Antwort, doch augenscheinlich ist die Verbindung noch immer wackelig. „Ich bin ok“, schreibt er, "aber wir sind alle traumatisiert.“ Noch am Abend der Katastrophe seien sie in die höheren Gebiete geflüchtet wegen der Tsunami Warnung. Das ganze Dorf sei zerstört. „Wir haben geschrien, geweint und gebetet.“ Wie sehr würde ich ihn jetzt in den Arm nehmen und trösten wollen. „Die Kinder weinen natürlich am meisten, es gibt kaum was zu essen, wir müssen zu einem anderen Dorf längere Zeit gehen, um uns zu waschen oder Wasser zu holen. Die Rettungskräfte kommen nur ab und zu. Mit über hundert Leuten verbringen wir die Nacht in einem Zelt. Es ist unruhig, sodass ich kaum schlafen kann.“ Immerhin sei aber sein Roller bis auf ein paar Kratzer verschont geblieben.


Die Geburtsurkunde liegt noch irgendwo in den Trümmern


Ich versuche mir das Unfassbare vorzustellen, doch es ist trotzdem schwer aus der sicheren Position heraus. Ich weiß noch nicht einmal, wie sich ein Erdbeben anfühlt, zum Glück, muss man natürlich sagen. Die Bewohner seines Dorfes würden sich gegenseitig unterstützen. „Sind das deine Sachen in der großen Decke?“, frage ich A’an. „Ja, mom, ich habe alles aus den Trümmern geborgen, auch eure Geschenke und Annas Foto, leider ist aber der Rahmen zerbrochen.“ „Hast du alles gefunden oder vermisst du noch etwas?“ „Ich habe fast alles gefunden, nur meine Geburtsurkunde vermisse ich noch“, schreibt A’an. Oh je denke ich, und genau die braucht er, um später einen Reisepass für Deutschland zu beantragen. Doch jetzt müssen wir erst einmal von Tag zu Tag denken. Wer hätte das gedacht, noch vor kurzem fühlten wir uns zusammen wie im Paradies und waren super glücklich!


Im nächsten Beitrag geht es darum, nicht mehr tatenlos aus der Ferne zuzuschauen, denn wir haben eine Idee …

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